Geschrieben von
Dagmar Kelle , 11. Januar 2018

Das Theologiestudium besteht zu einem sehr großen Teil aus Lesen, und zwar aus dem Lesen wissenschaftlicher Texte, sogenannter Sekundärliteratur.

Lesen macht bekanntlich Spaß – zumindest wenn das Buch spannend ist. Was für Krimis und Fantasyromane gilt, gilt in gewisser Weise auch für wissenschaftliche Literatur. Allerdings ist es bei letzterer oft schwieriger, in die „Geschichte“ hineinzukommen und voller Spannung bis zur letzten Seite dabei zu bleiben. Daher lohnt es sich darüber nachzudenken, was dafür sorgt, dass es einem bei einem Krimi so geht.

Bei einem guten Krimi ist es eine Frage, die einen bis zur letzten Seite in Atem hält; meistens die, wer der Mörder ist. Gemeinsam mit dem Detektiv sammelt man Seite um Seite Indizien, im Idealfall bleibt die Spannung bis zum Schluss bestehen, wenn das Rätsel endlich gelöst wird.

Bei einem guten wissenschaftlichen Aufsatz kann es einem ähnlich gehen, vorausgesetzt, die Frage, die er versucht zu beantworten, interessiert einen ähnlich brennend wie die Suche nach dem Mörder. Der Unterschied ist allerdings: Während sich beim Krimi die Frage aus der Handlung ergibt, in die man förmlich hineingezogen wird, muss man bei wissenschaftlicher Literatur selbst etwas tun, um in die Geschichte hineinzukommen. Hier muss man die Frage gewissermaßen schon mitbringen.

Wer selbst schon mit der Interpretation einer schwierigen Bibelstelle gekämpft hat, wird die Argumente für oder gegen eine bestimmte Deutung mit Spannung lesen, weil sie ihn eventuell näher an die Lösung des Problems bringen. Er oder sie wird interessante Fährten und wichtige Indizien erkennen, wo andere nur trockene und spitzfindige exegetische Überlegungen wahrnehmen.

Wie bekommt man es also hin, die Pflichtlektüre im Studium zum Krimi werden zu lassen? Vor allem dadurch, dass man selbst Fragen hat, bei deren Beantwortung die Texte helfen können.

Bevor man anfängt zu lesen, lohnt es sich festzustellen, auf welche Frage der Text wohl eine Antwort geben möchte. Ist diese Frage identifiziert, fängt man am besten damit an, selbst ein wenig an ihr zu arbeiten. Bei einer systematisch-theologischen oder philosophischen Frage geht das am besten durch Nachdenken und Sammeln von Gedanken und Ideen, bei einer Frage der Textinterpretation durch genaues Lesen der biblischen Textstelle oder der kirchengeschichtlichen Quelle. Wer so vorbereitet an den wissenschaftlichen Text herangeht, wird mehr von der Lektüre haben.

Darüber hinaus spielt auch der größere Zusammenhang, in dem man einen Text liest, eine Rolle für die Fragen, mit denen man an ihn herantritt. Wenn man den Text im Rahmen eines Seminars vorbereitet, ergeben sie sich oft schon aus dem Zusammenhang der vorigen Seminarsitzungen. Welche Probleme sind dort aufgekommen? Was kann der Text dazu beitragen? Wenn man auf diese Fragen beim Lesen besonders achtet, wichtige Textstellen dazu markiert und sich die Hauptaussagen dazu noch einmal zusammenfasst, ist man für die Seminardiskussion gut vorbereitet.

Liest man dagegen, weil man eine Hausarbeit schreibt, ist man ja schon auf dem besten Wege, Experte oder Expertin für das eigene Hausarbeitsthema zu werden. Die Fragen ergeben sich schon aus der eigenen Arbeit am Problem. Alles, was dazu etwas beiträgt, ist interessant und muss daraufhin ausgewertet werden, ob es eine heiße Spur bietet, alles andere kann man zunächst einmal beiseitelassen. Es lohnt sich aber, sich auch zu scheinbar irrelevanten Textpassagen eine Notiz zu machen. Sie könnten im weiteren Verlauf der Ermittlungen doch noch relevant werden.

Zugegeben: In wissenschaftlicher theologischer Literatur geht es (außer vielleicht im Alten Testament) eher selten um spektakuläre Mordfälle. Wenn man diese Hinweise im Auge behält, kann das Lesen im Studium aber mitunter trotzdem zu einer packenden Erfahrung werden. Auch wenn es auf den ersten Blick nicht immer danach aussieht.


Vikarin Jennifer Krumm bloggt regelmäßig aus der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Sie ist Vikarin der EKBO und absolviert ihr Vikariat berufsbegleitend in Wuppertal. An der Kirchlichen Hochschule ist sie als wissenschaftliche Assistentin für das Neue Testament und seine Umwelt tätig. Sie promoviert zur  „Ausbreitung des frühen Christentums in Galatien und seine personalen und institutionellen Autoritätsstrukturen“. Im Wintersemester 2017/2018 bietet sie an der KiHo das Einführungsseminar in das Theologiestudium an.

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